Es regnet. Schon den ganzen Tag seit heut' morgen. Wäre aber auch nicht angebracht, wenn die Sonne scheinen würde.
Der Regen paßt besser zu meiner Stimmung. Gestern hat es auch geregnet. Darum ist Josh mit seinem Wagen ins Schleudern gekommen und gegen einen Baum geprallt.
Siebenundvierzig Minuten nachdem er die Fahrprüfung bestanden hat und genau dreizehn Minuten nachdem er mich zu einer Spazierfahrt abgeholt hat.
"Mike", hat er zu mir gesagt, "jetzt fängt ein neues Leben für mich an." und ist mit heulendem Motor losgefahren. Er hat übers ganze Gesicht gelacht.
Dreizehn Minuten später war er tot. Ich bin mehr als glimpflich davon gekommen. Mit einem Pflaster am linken Ellbogen und ein paar blauen Flecken. Sonst nichts. Keine inneren Verletzungen. Nichts. Für die Kopfschmerzen, die ich seit gestern habe, hat der Arzt keine Erklärung gehabt. Ich habe Aspirin genommen, sie sind nicht weg.
Morgen ist Joshs Beerdigung. Josh, mein Kumpel, Josh ... mein bester Freund, die einzige Familie, die ich je hatte. Josh ist tot.
Ich halte es in meinem Zimmer nicht mehr aus, möchte raus aus diesem Heim ... ich hasse es. Ich beschließe, einen Spaziergang zu machen. Ich schaue auf die Uhr. Seltsam, dachte ich, es ist genau die Zeit, um die ich früher immer Josh abholen ging. Früher.
Draußen regnete es immer noch. Ich habe keinen Regenschirm und werde naß. Meine Kopfschmerzen sind weg, seit ich aus dem Heim gegangen bin.
Ohne zu wollen, biege ich in die Straße ein, in der Josh wohnt ... wohnte. Lauter schöne Familienhäuser, mit einem Basketballkorb über dem Garagentor hängen, wo die Väter mit ihren Söhnen samstags Basketball spielen.
Dort ist Joshs Haus. Eines der schönsten. Ich gehe zögernd näher. Am Gartenzaun angelehnt steht eine Gestalt mit verschränkten Armen. Es versetzt mir einen Stich. Genauso stand Josh immer da, ungeduldig auf mich wartend, denn pünktlich war ich nie.
Verdammt, diese Person trägt dieselbe rote Baseballmütze wie Josh. Dasselbe T-Shirt. Dieselben Turnschuhe. Ich habe eine Hallunzination, eine Fata Morgana, denke ich entsetzt, der Schock sitzt tief in mir. Ich gehe näher auf diese Erscheinung, die Josh so sehr ähnelt, zu und erwarte, bin sicher, daß sie gleich verschwindet, sich auflöst in Luft, es muß so sein, es muß!!! Ich schließe meine Augen und öffne sie ganz, ganz langsam wieder.
Er steht da noch immer. Jetzt dreht er sich zu mir um, grinst, winkt mir zu und ruft: "He Mann, beeil dich mal!". Es ist Josh.
Ich stehe jetzt direkt vor ihm und betrachte ihn fassungslos. Ich öffne den Mund, möchte etwas sagen, doch es kommt nur ein Krächzen heraus.
"Mike?" Josh blick mich prüfend an. Das ist ein Traum, schießt es mir durch den Kopf, ich liege im Bett und träume. Ich zwicke mir in den Arm, es ändert sich nichts. Noch immer bin ich auf der Straße vor Joshs Haus und Josh steht vor mir. Es regnet in Strömen. Ich strecke die Hand nach Josh aus, berühre seinen Arm, seine Hand. Ich setze erneut zum Sprechen an, und bringe heiser hervor: "Bist du echt, oder ... ein ... Geist?". Ich sage es mit einer Stimme, die ich fast nicht als meine erkenne. Josh macht große Augen und sagt: "Sagt mal spinnst Du? Was soll denn das für 'ne Frage sein?". "Josh!" rufe ich verzweifelt, "du bist doch tot!". Stille.
Josh weicht vor mir zurück. "Wie ... wir hatten doch gestern einen Unfall, du und Ich. Mit deinem Wagen...".
Das ist doch total verrückt! Ich rede mit einem Toten .. "Mike" beginnt Josh, doch ich unterbreche ihn "Du bist gestorben, Josh, gestern!". Ich schreie es. "Hier", ich strecke ihm meinen Arm mit dem Pflaster aus, "ich bin verletzt!"
Ich beobachte, wie Josh den Blick auf meine Arm richtet. Dann schaut er mich an. Mitleidig. Verständnislos.
Ich schaue auf meinen Arm. Er ist unverletzt, kein Pflaster klebt an ihm. Meine Kopfschmerzen sind wieder da, stärker als je zuvor.
Wie von weit her dringt Joshs Stimme an mein Ohr: "Mike? Was ist los mit dir? Bist du etwa krank?". Er macht Anstalten, mir seinen Arm um die Schultern zu legen, doch ich weiche zurück.
In meinem Kopf geht alles durcheinander, es pocht und hämmert ... "Nein!" schreie ich und beginne zu laufen, weg, weg von Josh, ich renne, schneller ... immer schneller renne ich weg. Ich höre, wie Josh mich ruft, doch ich bleibe nicht stehen.
Ich bin wieder in meinem Zimmer. Die Regentropfen schlagen an mein Fenster, der Regen ist so stark, ich sehe die Straße nicht mehr.
Josh ist nicht tot. Wir hatten keinen Unfall. Mein Arm ist nicht verletzt. Es muß ein Traum gewesen sein, ein unglaublich realistischer Traum. So realistisch, daß ich heute morgen gedacht habe, es sei Wirklichkeit.
Ich hätte nicht gedacht, daß es solche Träume gibt. Oh Mann, Josh muß ja glauben, ich bin verrückt, total durchgedreht.
Ich sollte ihn anrufen, ihm erklären, was los war. Unten im Aufenthaltsraum ist ein Telefon.
Zwei Mädchen sitzen unten vor dem Fernseher. Gerade läuft die Erkennungsmelodie für die Serie, die immer Montags um fünf gesendet wird. Moment mal ... montags?! Aber heute ist doch Mittwoch! "Hey" sage ich zu einem der Mädchen ... haben sie das Programm geändert?". Sie sieht mich verwundert an. "Na die Serie!" Ich deute auf den Fernseher ... "das kommt doch immer montags.". Noch ein verständnisloser Blick, "Heute ist doch Montag.". Dann wendet sie sich wieder dem Fernseher zu.
Ich schlage die Augen auf. Vogelgezwitscher dringt an mein Ohr, die Sonne erhellt das ganze Zimmer. Heute regnet es nicht mehr, zum Glück. Ich bin gestern doch nicht mehr dazu gekommen, Josh anzurufen. Ich mußte erst mal verarbeiten, daß ich meinen Traum für so real gehalten habe, daß ich wirklich geglaubt habe, ein Tag wäre vergangen. Im Traum war es nämlich Dienstag. Verrückt sowas, von der Zukunft zu träumen! Dieser Gedanke ist ja erschreckend! Heute ist Dienstag, der Tag an dem Josh die Fahrprüfung hat!!! Soll das etwa heißen, mein Traum wird heute Wirklichkeit? Sowas soll es ja geben! Ich habe an sowas nie geglaubt, aber ... mann kann ja nie wissen. Schließlich geht es um Joshs Leben. Und um meins auch ... wer sagt denn, daß ich heute genauso unbeschadet davonkomme wie in meinem Traum?
Nein, Josh hat eine Warnung verdient. Es ist zehn vor zehn Uhr, Joshs Prüfung ist um viertel nach zehn. Das hat er mir bestimmt schon tausend mal in letzter Zeit gesagt, so erwartungsvoll sah er diesem Tag entgegen. Ich ziehe meine Jogging-Hose an, und gehe hinunter zum Telefon. Josh ist selbst am Apparat.
"Hi, Kumpel," begrüßt er mich. Nichts Außergewöhnliches in seiner Stimme. Auch keinerlei Fragen in Bezug auf den gestrigen Vorfall. "Öhm ... Josh ...", beginne ich, "ich wollte dir nur sagen ... wegen gestern ..." Ich halte inne. "Warum? Was war denn gestern?" fragt Josh völlig ahnungslos. "Nun ja ... ich meine, ich war ein bißchen durcheinander wegen eines Traumes, aber ...". "He Kumpel, tut mir schrecklich leid, aber ich muß jetzt Schluß machen. Mein Alter nervt. Du weißt doch, der Gottesdienst ...". "Was?" ich bin verblüfft "du mußt jetzt auch unter der Woche mit in die Kirche?" "Spinnst du?"
Ich verstehe jetzt gar nichts mehr "Und was ist mit deiner Fahrprüfung?"
"Mike, die ist doch erst übermorgen, am Dienstag! Oder hast du schon mal gehört, daß jemand am Sonntag geprüft wird? Oh Mann, ne, manchmal bist du echt witzig."
Ich bekomme gar nicht mit, wie er sich verabschiedet. Wie betäubt hänge ich den Hörer ein. Josh muß jetzt in die Kirche, weil heute Sonntag ist. Seine Fahrprüfung ist übermorgen, am Dienstag. Ich gehe zurück in mein Zimmer. Auf dem Weg dorthin fällt mein Blick auf den Kalender, der an der Wand hängt. Eine rote Sechszehn prangt darauf. Sonntag, der Sechzehnte.
Meine Kopfschmerzen sind wieder da. Kein Wunder, habe ich doch gerade erst festgestellt, daß ich verrückt werde oder so was Ähnliches. Entweder ich, oder die gesamte Welt um mich herum.
Heute müßte Dienstag sein, doch auf dem Kalender ist es Sonntag, und Josh geht in die Kirche, wie jeden Sonntag, sein Vater besteht dadrauf.
Und er erinnert sich nicht an das, was gestern vor seinem Haus geschehen ist, genau wie das Mädchen aus dem Heim sich nicht mehr erinnern kann. Ich habe sie vorhin gefragt, wegen der Sache mit der Montagserie. Ihre Blick sagte alles. Aber daüfr muß es doch eine Erläuterung geben, daß ich Dinge erlebe, an die sich am nächsten Tag kein Mensch mehr erinnern kann.
Und die Kopfschmerzen ... seit dem Traum oder was immer es auch war, sind sie nicht weggegangen. Der Unfall, was ist damit? Wenn es ein Traum war, dann muß alles, was ich seitdem erlebt habe, ebenfalls Traum sein! Verdammt, es ergibt alles keinen Sinn. Aber es gibt sicher eine Erklärung ... es muß einfach ... Ich muß sie nur finden. Heute ist ... Ich schaue auf meine Weckuhr, die das Datum anzeigt und bekomme eine irrsinnige Lust, laut loszuschreien, alles zu zerschlagen.
Die Uhr zeigt den 15. an, Samstag.
Ich möchte nicht weinen, doch die Tränen kommen mir von selbst.
Ist man es sich so bewußt, wenn man verrückt wird?
Josh hat soeben angerufen, wir haben uns für das «Bluemoon», unserer Stammdisco verabredet, wie jeden Samstag. Ich weiß nicht, ob es unter diesen Umständen richtig ist, aber was soll ich sonst tun?
Mit Josh kann ich nicht reden, er würde es nicht verstehen ... Wir denn auch? Ich begreife es doch selbst nicht. Am nächsten Tag weckt mich die Heimglocke. Es ist Zeit zum Aufstehen. Die Heimglocke ist nur an Tagen gestellt, an denen Schule ist.
Ich bleibe im Bett. Ich habe einen Verdacht, einen ganz schrecklichen Verdacht, der alles erklären würde. Aber es ist so unglaublich ... nein, ich wage gar nicht daran zu denken ... so etwas gibt es nicht!!!
Der Heimmutter sagt ich, mir geht es nicht gut, und das ist nicht einmal gelogen, die Kopfschmerzen sind noch immer da.
Es ist Mittwoch. Gestern - nein, ich sage nicht gestern - also, am Tag vor diesem bin ich auch nicht zur Schule gegangen. Ich komme gerade aus dem Büro meines Schulleiters. Ich Idiot wollte mich für das Fehlen am Freitag und Donnerstag entschuldigen. Der Direx hat mich angeschaut und gesagt: "Junge, ich glaubt du willst mich auf den Arm nehmen. Du entschuldigst dich für den dreizehnten und vierzehnten ... wo doch heute erst der zwölfte ist! Weißt du denn jetzt schon, daß du morgen und übermorgen krannk sein wirst?!"
Er hat den Kopf geschüttelt und während ich sein Büro verließ, vor sich hingemurmelt: "Ts, ts, diese Jungs versuchen es doch immer wieder."
So! Jetzt have ich den endgültigen Beweis! Ich werde nicht verrückt, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn.
Joshs Unfall war kein Traum, sondern Realität. Bloß, danach ist es nicht mehr weitergegangen. Es folgte der Montag, nicht der Mittwoch, dann Sonntag, Samstag, Freitag ... die Zeit läuft rückwärts.
Ich erlebe die Zukunft, aber nur Ich allein. Ich weiß, daß Josh am selben Tag seiner Fahrprüfung einen Unfall hat und dabei ums Leben kommt. Nur ich weiß es! Josh, das Mädchen im Heim und der Direx, ... sie und der Rest der Welt, sie wissen es nicht.
Ich wandere durch die Schule und frage mich, ob ich mich nun darüber freuen soll, daß mein bester Freund wieder oder besser: noch am Leben ist oder ob ich verzweifeln soll, weil ich keine Zukunft habe, sondern Tag für Tag zurück in die Vergangenheit gehe? Und wie lange wird das gehen? Mein Leben lang?
Ich bin jetzt wieder dreizehn. Ich muß mich nicht mehr rasieren und meine Stimme ist jett ganz hell. Mit Josh gehe ich nicht mehr in die Disco, sondern Baseball spielen.
Schon etliche Male habe ich mit ihm über das geredet, was ich erlebe - er glaubt mir nie, daß ich ernsthaft rede - und es nützt sowieso nichts, weil er am nächsten Tag nichts mehr davon weiß.
Ich leide an chronischen Kopfschmerzen und der Heimleiter hat mich ein ganzes Jahr lang, jeden Tag von neuem, da er sich ja nicht an den Tag zuvor erinnern kann, zum Arzt geschickt. Natürlich habe ich niemals eine neue Diagnose zu hören bekommen. Deshalb habe ich aufgehört, mich über die Schmerzen zu beklagen.
Heute ist der erste Schultag in der Junior High School. Es ist der Tag, an dem ich Josh kennenlerne. Er ist erst gestern in unserer Stadt eingezogen. Ich sehe ihn also heute zum letzten Mal. Er trägt eine Zahnspange, die er mit vierzehn wegbekommt.
Morgen ... halt nein, gestern - kennt er mich nicht mehr ... hm ... besser: noch nicht, er wohnt nicht hier!
Mach's gut Josh, war'ne tolle Zeit mit dir. Die Grundschulzeit ist schrecklich. Ich versuche Freundschafte zu schließen, doch erweist sich das als sehr schwer. Ich muß es jeden Tag versuchen, alles was ich an einem Tag aufbaue, existiert am vorigen ja noch nicht. Ich glaube, ich gebe es auf, es hat ja doch keine Zweck.
Die erste Klasse. Wieder der Schmerz, wenn ich die anderen mit ihren Eltern sehe. Die Kinder fragen mich, wo meine sind, ich es jeden Tag von neuem beantworten. Diese Zeit war mal vorbei, ich war schon damit fertiggeworden.
Ich glaube, daß ich nicht mehr lange Buch über mein Leben führen kann.
Ich bin jetzt ungefähr sechs Jahre alt. In diesem Alter habe ich schreiben, lesen und rechnen gelernt.
Meine kleinen Hände halten den Stift in der Hand un es ist wieder so schwer wie damals, aus Buchstaben zusammenhängende Wörter zu bilden.
Noch sechs Jahre ... und dann? Wo komme ich hin? Was passiert mit mir? Werde ich erleben, was mit meinen Eltern geschehen ist?
Schade, daß ich niemande habe, mit dem ich reden kann. Jemand, der mir das glaubt. Bald werde ich sterben, oder geboren werden? Wo komme ich hin, wieder in den Bauch meiner Mutter? Ich weiß es doch nicht ... Ich kann nicht mehr schreiben, hilfe, ich verlerne es ... ich höre auf ...
COPYRIGHT (C) 1991, ANTONELLA D'ADDEO. ES IST VERBOTEN DIESEN TEXT ZU VERTREIBEN!
Diese Kurzgeschichte wurde in der SomeTimes #4 veröffentlicht (Schülerzeitung des Königin-Olga-Stift, Stuttgart). Wenn Sie gerne mehr von Antonella D'Addeo lesen möchten oder ihre Werke veröffentlichen möchten, dann schreiben Sie einfach an sie:
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